Das Gefühl von toxischer Scham beschreibt das Gefühl, die Überzeugung, von Grund auf schlecht, nicht liebenswert und wertlos zu sein. So drastisch das klingt, hatten die meisten von uns auf die eine oder andere Art frühkindliche, für die gesunde Identitätsentwicklung destruktive Erlebnisse, die diese Kern-Überzeugung in uns zurückgelassen hat.
Scham an sich, ist ein guter innerer Hinweis darauf, dass wir unsere Grenze, oder die eines anderen überschritten haben. Es dient also, auf gesunde Art und Weise, als Kompass und Barometer für das Selbsterleben. Toxische Scham steht dem gegenteilig entgegen. Es ist das Gefühl, keine Grenzen zu kennen und zu erleben, sich seiner Bedürfnisse nicht gewahr zu sein und mit dem Gefühl zu leben, man sei von Grund auf falsch.
Bevor wir uns anschauen, wie genau diese verzerrte Wahrnehmung vom eigenen Leben entstehen konnten, schauen wir vorher noch einmal, wie sich das Gefühl von toxischer Scham im Erwachsenenalter ausdrücken kann.
1.) Geringer Selbstwert
Jeder von uns fühlt sich in manchen Bereichen seines Lebens sicherer und wertvoller, als in anderen. So kann man z.B. in seinem Job eine Position voll Anerkennung und Expertise erleben, aber im Privat und/oder Liebesleben eine dazu gegensätzliche Stellung erleben.
Es geht also darum zu schauen, in welchen Bereichen sich ein Gefühl vom eigenen Wert und der eigenen, angeborenen Gutartigkeit zeigt und wo wir uns als „mangelhaft oder unzulänglich“ erfahren und bewerten.
Die tief verankerte Überzeugung der Scham, man sei falsch oder mit einem stimmt etwas nicht, man sei nicht normal, wirkt sich dann hier auf das Selbstbild und das Erleben und bewerten des Selbst aus. In häufigen Fällen durch ein Gefühl von Wertlosigkeit. Ein zutiefst unangenehmes und bedrohliches Gefühl.
2.) Co-Abhänigkeit
Co-Abhänigkeit beschreibt eine fast Symbiotische Verschmelzung mit jemand anderem. Dabei verliert man ein Gefühl von „Selbst“ von „Ich“ und erlebt stattdessen viel mehr den anderen. Die eigenen Grenzen verschwimmen also mit denen einer anderen Person. Das kann der Partner sein, aber auch die Kinder, Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen.
In einer Co-Abhängikeit werden die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle nicht mehr erlebt (oder sie bekommen keinen Raum), sondern der Fokus liegt komplett auf der anderen Person. Man ist dann abhängig von positiver Bestätigung, Zuwendung und Anerkennung des anderen. Durch das Gefühl von toxischer Scham ist das Fundament des Selbstbildes so brüchig, dass nur die Zuwendung und Bestätigung von außen ein (kurzzeitiges) Gefühl von Erleichterung und Wert erlebbar macht.
3. Süchte
Da die tiefe (und enorm belastende) Überzeugung besteht, mit einem sei etwas nicht in Ordnung, man ist defekt, braucht es externe „Hilfsmittel“ um dieser inneren Anspannung und dem erdrückenden Gefühl von Verzweiflung für einen kurzen Zeitraum nicht mehr zu spüren. Jeder von uns hat seine eigenen Wege, um das zu erreichen.
Auch wenn man weiß, dass diese Dinge schädlich oder hinderlich für das eigene Wohlergehen sind, wird die Erleichterung die diese Dinge uns bieten, wertvoller wahrgenommen, als in der bedrohlichen existenziellen Panik zu verharren, die die Folge von toxischer Scham ist.
4. Perfektionismus
Als Gegenreaktion zu dem Gefühl, nicht gut genug zu sein, entwickelt sich ein hoher perfektionistischer Anteil, der diesen „Fehler“ ausbügeln will. „Wenn ich alles richtig, mache, der beste in etwas werde oder mir keine Fehler erlaube, werde ich die Zufriedenheit und Fülle erleben, nach der ich mich immer gesehen habe“. Perfektionismus hat also immer toxische Scham als Ursprung und ist der (wohl gemeinte) Versuch, Sicherheit, Zuwendung und Liebe zu bekommen.
Da das Gefühl der Scham so stark von bedrohlich erlebt wird, tun wir alles, um dies nicht zu fühlen. Taucht das Gefühl doch mit seiner ganzen Kraft auf, beschämen und kritisieren wir uns dafür und so bleibt der Teufelskreis der Scham bestehen.
Wie entsteht das Gefühl von toxischer Scham
Im Gegensatz zum Gefühl von Schuld, bei dem man denkt, man hat einen Fehler gemacht, ist die Schlussfolgerung von Scham, man IST der Fehler. Scham kann auf zwei Hauptweisen entstehen, aktiv und passiv.
Beim aktiven wird man sprichwörtlich von seinen Bezugspersonen für etwas beschämt. Als Kinder sind wir großer Forscher und Entdecker und probieren viel aus. Wenn die Rückmeldung der Bezugspersonen dann Kritik, Vorwürfe und heruntermachen sind, festigt sich im Kind das Gefühl es IST falsch.
Das kann sich durch physische Gewalt eines Elternteils ausdrücken, durch das Ignorieren und alleine Lassen des Kindes, über Vergleiche mit anderen bei denen man immer als der Verlierer dasteht. Oft ist Scham auch ein Erziehungsmittel. Durch laute Vorwürfe und Zurechtweisungen sollen Grenzen aufgezeigt werden, damit das Kind „lernt“ etwas neu tun oder nicht zu tun. Wird diese Kritik, Beleidigung oder gar Demütigung nicht im Ausklang der Situation „korrigiert“, sondern bleibt unkommentiert bestehen, festigt sich im Kind ein tiefes Leid, das Gefühl, versagt zu haben und nichts wert zu sein.
In der passiven Variante, sucht das Kind in seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit durch bedrohliche Situationen oder ein unsicheres Umfeld nach Erklärungen für das empfundene Leid, das nicht erfüllend-bekommen der eigenen, lebensnotwendigen Bedürfnisse. Als kleines Kind ist die einzige Schlussfolgerung aus dieser Situation heraus „Ich bin der Fehler“. Es kann nicht sehen oder verstehen, dass es die Bezugspersonen mit ihrer eigenen toxischen Scham sind, die nur bedingt Liebe, Einfühlung und Nähe bieten können.
Heilung von toxischer Scham
An seiner Scham zu arbeiten und diese zu heilen, ist ein großes Unterfangen, welches am Fundament der Selbstidentität ansetzt. Der erste Schritt zur Heilung ist es natürlich, sich seiner eigenen Situation und vielleicht sogar Vorgeschichte bewusst zu sein. Das ist oft nicht leicht, da versucht wird, die Scham (auch vor uns selbst) zu verstecken und wegzudrücken. Oft sind es große Krisen (so war es bei mir) die einen in den Kontakt mit diesen tief verankerten Anteilen und Selbstbildern bringt.
Wenn man spürt, dass das Thema mit einem selbst zu tun haben könnte, würde ich empfehlen, Bücher zu dem Thema zu lesen (siehe auch Buchempfehlungen) und sich so einen Zugang zu diesem Thema aufzubauen und so vor allem erstmal kognitiv das Ganze weiter zu vertiefen.
Was toxische Scham so schwierig macht, ist das sie versteckt gehalten wird. Was sie heilt, ist sie an die Oberfläche zu holen. Ob es der Austausch und das in Kontakt bringen mit einer vertrauensvollen Person über Scham-besetzte Themen ist oder die Arbeit in einem psychologischen Kontext. Die Scham zu artikulieren, ihr einen Raum zu geben und sie aus ihrem Versteck zu holen, ist gleichermaßen heilsam wie bedrohlich. Es ist das Gegenteil von dem, wie wir ja bisher mit der Scham umgegangen sind.
Weiter ist es wichtig, die eigene Biografie zu verstehen, insbesondere die Kindheit und am besten sogar die der Eltern. Hier lässt sich erstmal Verständnis, Kontext und Klarheit über die eigene Entwicklung finden. So zu lernen, dass man keine Schuld an der unzureichenden Einstimmung der Bezugspersonen hat, dass man ein unschuldiges, kleines Kind war und keine Schuld trägt.
Dann geht es weiter, diese frühkindlichen Überzeugungen und Gefühle neu zu betrachten, ihnen Raum zu geben sich zu zeigen und sie dann vorbehaltlos und bedingungslos zu erleben. Wir sehen uns aus dem Gefühl der Scham heraus, nach Sicherheit, Wärme, Zuwendung und Liebe. Wenn diese Qualitäten mehr Einzug in unseren Umgang mit uns selbst finden, lösen sich nach und nach diese alten Muster auf.
Das Ganze ist ein Prozess. Ein intensiver Prozess, der einen mit den tiefsten und verstecktesten Seiten des eigenen Selbst in Kontakt bringt. Doch wie auf anderer Seite schon beschrieben, ist es egal, wie dunkel die Nacht, das Licht wird zurückkehren und stärker strahlen, als jemals zuvor.
3 Comments
Hallo F, (für was das auch immer stehen mag)
ich denke doch, dass es so gemeint ist. Angst des Herzens, was soll das sonst letztendlich sein? Die Erkenntnis, dass ich verloren bin, endgültig abgeschnitten bin, weil ich meine eigene innerste Intention verraten habe. Schau der Mann war Sklavenhändler, und plötzlich wird ihm voll klar was er da gemacht hat all die Jahre. Das hälst du nicht aus, da stirbst du dran – normalerweise. Er sagt es war zweimal Gnade, einmal, dass ihn diese „Angst des Herzens“, ich sage die bodenlose Scham, überfallen hat, und zum Zweiten, dass etwas oder jemand (ich sage jemand) ihn gerettet hat, ihm trotz alledem die Hand gereicht hat.
Es ist auch weniger ein Erklärungsansatz, als viel mehr eine persönliche Erfahrung. Die ich allerdings – ich persönlich glaube berechtigt – verallgemeinere. Ich denke heute, die Todessehnsucht, die laut einigen Philosophen oder auch Psychologen von Geburt an in uns wohnt, beruht auf einer Scham, die von einer absoluten Scheiße herrührt die wir wir in irgendeiner tiefen Bewusstseinsvorzeit begangen haben. Jeder persönlich und eigenverantwortlich. Das ist der Grund warum der Mensch sterben muss.
Herzlich, Christoph
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Hallo Christoph, warum sollte das Wort ,fear’ hier Scham meinen, wenn es mit Furcht oder Angst übersetzt werden muss? Wieso sollte Scham die eigentliche Ursache für unseren Tod sein? Ich finde Deinen Erklärungsansatz wenig plausibel. F.
Hallo Tim.
Scham entsteht nicht (nur) durch destruktive Erlebnisse in der Kindheit. Sie mag dadurch verstärkt, ja auch „toxisch“ werden. Aber generell greift die Erklärung mit den destruktiven Erlebnissen zu kurz. Scham ist eine Grundstimmung im Menschen. Ich gehe davon aus, dass er damit geboren wird, und dass sie die eigentliche Ursache für unseren Tod ist. Oder die lebenslange (unbewusste) Vermeidung der Scham ist es die zum Tode führt. Jeder der von Scham geplagt wird hat einen unschätzbaren Vorteil: Er ist auf der Spur! Wo sie hinführt? Das Lied amazing grace gibt einen Hinweis. Dort wird sie Angst genannt, ist aber schon die Scham gemeint: ‚Twas grace that taught my heart to fear (!!!), And grace my fears relieved.
Gruß, Christoph