Jeder von uns hat angelernte Mechanismen, die einem dabei helfen sollen, mit unangenehmen und herausfordernden Erlebnissen, intensiven Gefühlen und bedrohlichen, inneren Zuständen umzugehen. Auf dem Weg der Selbsterkenntnis ist es von größter Wichtigkeit sich also nicht nur dieser Zustände bewusst zu werden, ihren Ursprung und ihre Auswirkung auf unser momentanes erleben der Realität, sondern auch warum wir die Selbstschutzmeachanismen entwickelt haben, wann sie aktiviert werden und wie wir sie durch bewusstes erleben transformieren können, um aus alteingesessenen Mustern auszubrechen.
Bevor wir uns anschauen, warum und wie dieser innere Schutzmechanismus entstanden ist, wollen wir beleuchten, welche Formen dieser annehmen können. Einige Beispiele für dieses innere Schutzsystem sind:
– Rauchen, Drogen und Alkoholkonsum
– Exzessiver Sport und Krafttraining
– Netflix, Internet und Videospiele
– Shoppen und Geld ausgeben
– Süßigkeiten und ungesundes Essen
– Zuviel, bzw. zu wenig essen
– Sex und Masturbation
– Sozialer Rückzug / Isolation
All diese Dinge sind für sich genommen kein großes Problem und wie immer, macht die Dosis das Gift. Wo es dann aber schwierig wird, ist, wenn wir diese angelernten Verhaltensmuster benutzen, um Gefühlsregungen in uns zu unterdrücken, zu betäuben und wir unseren inneren Anteilen in uns signalisieren, dass wir gerade nicht anders auf sie reagieren wollen. Wenn z.B. Traurigkeit aufsteigt, ist das ein wichtiges Gefühl, was sich ausdrücken will und dass sich vielleicht durch einen „Trigger“, also einen äußeren Auslöser gezeigt hat.
Wie ein Kind in uns, dass traurig ist und die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Eltern braucht, zeigen sich oft alte, verdrängte Anteile (inklusive Gefühlen und Emotionen) in uns, die die gleiche Zuwendung und Aufmerksamkeit von unserem Bewusstsein brauchen.
Als Kinder wurden wir mit diesen Gefühlen oft alleine gelassen, hatten keine Möglichkeit in einem sicheren, auf uns und unsere Bedürfnisse eingestimmtes Umfeld, komplett gesehen und begleitet zu werden. Als einzige Möglichkeit für das Kind mit diesen, als bedrohlich erlebten Zuständen fertig zu werden, ist diese abzuspalten und zu verdrängen.
Wenn zuhause z.B. gerade Hektik und Stress herrscht und wir uns gerade als kleines Kind überfordert, verängstigt und unsicher fühlen, drückt sich dies vielleicht durch Schreien, weinen oder nörgeln aus. Wenn die Eltern dann, vielleicht weil sie selber zu gestresst, geladen und innerlich „zu“ sind auf diese Reaktion (und viel wichtiger auf das Bedürfnis des Kindes nach Zuneigung, Nähe und Regulation, das heißt Begleitung und Auflösung durch die innerlich erlebten Zustände) des Kindes mit Gereiztheit, Wut oder Unverständnis reagieren, hat das Kind keine andere Wahl, als die innere emotionale Unruhe von seinem bewussten Erleben abzuspalten, um die Bindung und den Kontakt zu den Eltern nicht zu verlieren.
Wenn also durch die Bezugspersonen keine Begleitung, Anerkennung und kein Erspüren des Kindes mit seinem Erleben und Bedürfnissen passiert, ist das Kind alleine mit diesen Zuständen. Da weiter in diesem Zustand zu verweilen bedeutet würde, die Zuneigung und Zuwendung der Bezugsperson zu verlieren, kann es als einzige Möglichkeit nur diese Bedürfnisse unterdrücken und die dazugehörigen Gefühle unterdrücken. Löst sich die Situation nicht zeitnah auf, bleibt dieses Gefühl in uns „eingefroren“, ohne Möglichkeit sich auszudrücken. Es herrscht Stagnation auf emotionaler Ebene.
Dies ist der Beginn unseres Selbstschutzmeachanismus. Schon als Kind lernen wir, ein Gefühl von Befriedigung oder Zuwendung durch externe Mittel herzustellen. Das können Süßigkeiten als System von Belohnung und Bestrafung sein, Fernsehen oder Videospiele. Aber auch zu erleben, welche Selbstschutzmechanismen unsere Bezugspersonen anwenden, um mit ihren eigenem inneren Leid umzugehen, formt das Kind und in vielen Situationen werden diese dann als Erwachsener übernommen. Das kann Rauchen oder Alkoholkonsum sein, aber auch zu shoppen oder auch Essen als externe Befriedigung zu nutzen.
Wonach sich als Erwachsener unser inneres Kind am meisten sehnt, ist eine Bezugsperson zu haben, die einem dabei hilft, diese alten, unterdrückten Gefühle und Zustände anzuerkennen, zu begleiten und damit aufzulösen. Das innere Leid wartet auf Auflösung und ein „auftauen“ und frei fließen. Die einzige Art wie wir aber, durch Vorleben oder Beobachtungen gelernt haben, mit diesen inneren Zuständen umzugehen, ist durch unsere Selbstschutzmechanismen eine kurzzeitige Befreiung von diesen bedrohlichen Gefühlen zu haben und ein Gefühl von Ganzheit und Erfüllung zu erleben.
Letztendlich sehnen wir uns auf körperlicher Ebene danach, unser unreguliertes Nervensystem zu beruhigen und auf tiefster Ebene ein Gefühl von Freiheit, Flow und Leichtigkeit zur erfahren. Diesem Ansatz nach, kann Traumatherapie meiner Meinung nach am wirksamsten arbeiten um wirklich tiefe, alte Zustände aufzuarbeiten und aus dem System liebevoll zu befreien. Doch auch für uns selbst können wir ganz viel machen.
Der erste Schritt ist Akzeptanz und Verständnis für diese Dynamik und damit einhergehend ein verstehen der eigenen Geschichte, die der Eltern und welche Grenzen diese durch ihre eigene Geschichte vielleicht hatten. Wenn wir auf Verstandsebene erkannt haben, welche Schwierigkeiten es früher in der Beziehung gegeben hat (ohne die Eltern dafür verantwortlich zu machen, auch wenn das oft ein Teil des Weges zur Heilung ist) und wie sich das auf unsere Entwicklung und die unseres Selbstbildes und unserer Selbstwahrnehmung ausgewirkt hat, kommt der nächste Schritt.
Entweder alleine oder wenn es um schwerwiegende Prägungen geht durch professionelle Unterstützung, können wir nach und nach Zugang zu unserem inneren Kind finden und durch emotionale Heilarbeit einen ersten wichtigen Zugang zu unserer Emotionen erlangen. Dadurch stärken wir nicht nur unsere Selbstwahrnehmung und unsere Resilienz, sondern vor allem auch unsere Selbstregulationskapazitäten.
Das kann schon jetzt eine große Erleichterung und mehr Lebensqualität bringen, da wir nicht als ersten Schritt zu unseren angelernten Selbstschutzmechanismen greifen und „mehr bei uns sind“. Um jedoch einen tiefgreifenden Wandel zu erlangen, muss an der Wurzel angesetzt werden und das ist in den meisten Fällen die Regulation (Beruhigung) des überstimulierten Nervensystem, was hauptsächlich durch den liebevollen Kontakt und Austausch mit einem gegenüber passiert (am effizientesten mit professioneller Begleitung).
Suchtverhalten ist also ein gutgemeinter Versuch unseres Systems, mit bedrohlichen und schwierigen Situationen und Gefühlen umzugehen, wo wir nie gelernt haben, das Ganze auf natürliche Art und Weise aufzulösen. Unser Ego ist der Verwalter dieser Tätigkeit und tut uns damit einen riesigen Gefallen und ohne diese Hilfe, hätten viele von uns ihre Kindheit vermutlich nicht überlebt. Die Frage als Erwachsener ist jedoch
„jetzt wo ich kein hilfloses Kind mehr bin, wie kann ich mir das geben, was ich wirklich brauche, ohne auf begrenzende und oft negative Selbstschutzmechanismen zurückgreifen zu müssen?“
Die Antwort ist der Weg der Selbsterkenntnis mit seinen vielen Möglichkeiten sich ganz zu verstehen, wer man war, wer man ist und warum man so geworden ist. Daraus ergeben sich die notwendigen nächsten Schritte, die weiter oben ja schon erwähnt wurden. Wir sind keine Sklaven unserer Vergangenheit und jedes Leid, jedes alte Muster und jede Selbstschutzmechanismen lassen sich auflösen und transformieren. Das ganze braucht Zeit, Geduld, Hingabe, Verständnis und Mitgefühl.
Vor allem das Gefühl von tiefer Scham kann uns in einem Kreislauf festhalten. Wir wissen uns nicht besser zu helfen, als zum Alkohol zu greifen, dann kommt die Scham (von innen oder außen), die einem das Gefühl gibt „falsch, schlecht und kaputt“ zu sein, was dann wiederum den Wunsch verstärkt durch den gleichen Mechanismus wieder Erlösung davon zu bekommen. Siehe deine Suchttendenzen also als das was sind. Der einzige Weg wie wir gelernt haben uns zu geben, was wir in Krisen und schwierigen Zeiten brauchen. Wenn wir eine bessere Wahl hätten, würden wir diese nutzen. Mit Mitgefühl und Verständnis können wir das also akzeptieren und die Scham nach und nach aus diesem Kreislauf nehmen. Daraus eröffnen sich dann neue Wege, wie wir lernen können diesen Mechanismus durch etwas zu ersetzen, was uns bereichert, stärkt und auf Selbstliebe aufgebaut ist.
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